Überlegungen zur Verhältnismäßigkeit

Lohnt es sich, alternativmedizinische Mittel und Anwendungen auszuprobieren?

Die Anwendung alternativmedizinischer Ansätze ist oftmals sehr langwierig, erfordert viel Zeit und Geld. Der Ausgang ist ungewiss, eine Besserung der Symptome kann nicht garantiert werden. Viele Menschen stellen sich daher immer wieder die Frage, ob sich dieser Weg für sie lohnt.

Die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Anwendung alternativmedizinischer Ansätze beschäftigt auch mich immer wieder und ich habe dazu keine eindeutige Haltung. Ich kann daher diese Frage hier nicht beantworten, ich kann nur meine Gedanken dazu mitteilen. Gedanken, die, wie ich finde, allzu oft nicht ausgesprochen werden, da Alternativmedizin (zu) oft nur rein positiv bewertet wird (oder einseitig abgewertet, aber dieser Aspekt soll hier nicht Thema sein).

Tatsache ist, dass viele Menschen an schweren, oftmals chronischen Erkrankungen leiden. Tatsache ist auch, dass die Schulmedizin für solche Erkrankungen oft keine Behandlung bereithält, die für die Betroffenen zufriedenstellend ist. Im besten Fall bietet die Schulmedizin Medikamente und Behandlungen an, die zwar Symptome und Beschwerden lindern, in Einzelfällen kann sogar eine vollkommene Beschwerdefreiheit erreicht werden, nicht selten sind solche Medikamente allerdings regelmäßig und lebenslang einzunehmen und mit nicht unerheblichen Nebenwirkungen verbunden.

Aus Unzufriedenheit hierüber wenden sich die Betroffenen schließlich, oftmals nach einem jahrelangen Leidensweg, alternativmedizinischen Ansätzen zu, in der Hoffnung, hier Hilfe zu finden. Der Anspruch, der mit dieser Haltung allerdings auf alternativmedizinischen Ansätzen (und denen, die sie vertreten) liegt, ist enorm. Denn viele Betroffenen erwarten sich von alternativen Mitteln und Behandlungen etwas, das ihnen die Schulmedizin nicht bieten kann oder konnte. Diese Erwartung ist umso mehr verständlich, als dass betroffene Menschen viel Geld für eine solche alternativmedizinische Behandlung ausgeben, das sie in den meisten Fällen nicht von den Krankenkassen rückerstattet bekommen.

Meiner Ansicht nach wirft die Frage nach der Sinnhaftigkeit alternativmedizinischer Behandlungen eine ganze Reihe von grundlegenden Aspekten zur Haltung des einzelnen Menschen bezüglich Gesundheit/Krankheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortlichkeit auf.

Der erste Aspekt ist meiner Meinung nach die Frage, welche Haltung der einzelne Mensch zu Gesundheit oder Gesundsein hat. Sehe ich Gesundsein als ein Grundrecht an, habe ich also einen Anspruch darauf und gegen wen besteht dieser Anspruch? Oder liegt Gesundsein in meiner eigenen Verantwortung, muss ich mich noch mehr anstrengen, um dieses Ziel zu erreichen? Ist Krankheit eine Strafe Gottes, eine Prüfung des Schicksals, mitgebrachtes Karma aus früheren Leben? Oder ist Krankheit die Folge sozialer Ungleichheit, zunehmender Umweltverschmutzung, einer schlechten Lebensführung? Diese Fragen berühren auch spirituelle Aspekte nach dem Sinn von Krankheit, auf die jeder Mensch, vor allem Betroffene von chronischen Erkrankungen, eine individuelle Antwort finden muss.

Dies führt uns zur nächsten Frage, der Frage danach, wie wir leben wollen. Will ich mich selbst, meinen Körper und damit auch meine Gesundheit in die Hände von Ärzten legen, von denen ich mir Hilfe erwarte? Oder will ich so viel Selbstverantwortung wie möglich übernehmen? Einige alternativmedizinische Ansätze verlangen von ihren PatientInnen deutlich mehr Eigenleistung als dies schulmedizinische Ansätze tun.

Was erwarte ich mir von einer alternativmedizinischen Behandlung? Erwarte ich mir eine Linderung meiner Symptome? Bin ich also bereit, alternativmedizinische Mittel bei Bedarf anzuwenden? Oder erwarte ich mir eine komplette Symptomfreiheit? Auch wenn dies bedeutet, dass ich alternativmedizinische Mittel oder Methoden auf Dauer anwenden muss? Oder erwarte ich mir Heilung? Also die dauerhafte Abwesenheit von Symptomen und Einschränkungen auch ohne die Einnahme von Mitteln? Und was verstehe ich unter geheilt sein? Die Freiheit in allen Lebensbereichen, also tun oder auch essen zu können, was ich will, ohne Beschwerden befürchten zu müssen?

Viele Menschen, die an chronischen Erkrankungen leiden, mögen sich auch damit zufrieden geben, wenn ihre Beschwerden nachlassen oder sie gar eine gewisse Symptomfreiheit in bestimmten Bereichen erlangen, meist tragen sie aber tief im Inneren den Wunsch nach einer kompletten Heilung in sich. Dies ist oftmals auch der Grund, warum sie sich der Alternativmedizin zuwenden. Doch kann die Alternativmedizin Heilung versprechen dort, wo die Schulmedizin eine solche nicht anbieten kann? Zweifelsfrei gibt es immer wieder Menschen, die durch Alternativmedizin vollkommene Heilung erlebt haben oder erleben. Aber sie sind doch eher als Einzelfälle zu betrachten.

Alternativmedizinische Ansätze verlangen von den Betroffenen die Investition von Zeit und Geld. Wer zu einer Alternativmedizinerin geht und regelmäßig Mittel einnimmt oder Anwendungen bekommt, muss mit 200-300.- Euro pro Monat rechnen, wer alternativmedizinische Mittel ohne Arztbesuche alleine zu Hause einnimmt, investiert im Durchschnitt immer noch 50-100 Euro pro Monat. Regelmäßige Arztbesuche und ärztliche Anwendungen brauchen darüber hinaus viel Zeit, auch die alleinige Anwendung zu Hause erfordert Zeit, eine Stunde pro Tag ist das Minimum bei chronischen Erkrankungen.

Diese Zahlen im Hinterkopf, stellt sich die Frage, wofür ich bereit bin, diesen Aufwand an Zeit und Geld zu leisten. Ist mir diese Investition nur für eine komplette Heilung oder zumindest Symptomfreiheit wert oder bin ich dazu auch für eine ledigliche Reduktion der Symptome bereit, falls sich eine komplette Heilung nicht erreichen lässt?

Wer sich diesen Fragen nicht stellt bzw. sich nicht mit ihnen vor einer alternativmedizinischen Behandlungen beschäftigt, läuft Gefahr, eine solche Behandlung mit viel Zeit und Kosten auf sich zu nehmen und dann nach ein paar Monaten zu resignieren, wenn eine erwünschte Heilung ausbleibt. Zurück bleibt schließlich die Enttäuschung darüber, dass man trotz viel Zeit und Geld nur an einen Punkt gekommen ist, der sich vielleicht auch mit schulmedizinischen Methoden und ohne so viel Geld und Zeitaufwand hätte erreichen lassen.